Boris Ludborzs

“Ein Arbeitspsychologe der ersten Stunde”

32 Jahren Engagement für „Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit“

Er war einer der ersten Psychologen, die in den Berufsgenossenschaften für mehr Sicherheit und Gesundheit in der Arbeitswelt sorgen sollten. Boris Ludborzs, der im Mai 2016 seine Vorstandstätigkeit bei PASiG beendet hat, steht wie kaum ein anderer für die Verbindung von psychologischer Expertise und praxisbezogenem Engagement. Im Interview zieht er eine Bilanz der Entwicklung von psychologischem Knowhow in der Arbeitswelt.

Frage: Was hat sie damals motiviert, als Psychologe in das Themenfeld Arbeit zu gehen?

Boris Ludborzs: Ich kam ja bereits aus der Industrie. Ich hatte sechs Jahre bei der BASF als Chemielaborant eine Ausbildung gemacht und gearbeitet, war Anlagenfahrer und im Qualitätslabor beschäftigt. Auf dem zweiten Bildungsweg machte ich – abends – mein Abitur nach. Die Lehre bei BASF war so anspruchsvoll, dass sich fast die Hälfte meines Ausbildungsjahrganges danach im Arbeitsalltag unterfordert fühlte und über den zweiten Bildungsweg weiterqualifizierte – das sind heute Biologen, Ärzte, Banker und Ähnliches. Im Großen und Ganzen waren wir als Chemielaboranten einfach überqualifiziert – die Arbeit in der Chemieindustrie ist in der Produktion oder einem Qualitätslabor ziemlich wenig fordernd und monoton.

Frage: Wollten Sie dann nach dem Studium zurück in die Chemiebranche?

Boris Ludborzs: Nein! Das hatte ich zunächst nicht vor. Aus dem Studium heraus wusste ich sehr schnell, dass ich nie Therapeut werden will. Auch mein Praktikum in der Psychiatrie hat mich nicht vom therapeutischen Weg überzeugt.

Ich habe Psychologie in Mannheim studiert, an einer konservativen Wirtschaftsuniversität – von den 68er-Studentenunruhen hat man da nicht viel mitbekommen –, ich konnte also ziemlich wirtschaftsnah studieren und bin dann nach meinem Diplom nach Berlin an die Technischen Universität gegangen. Dort habe ich in Projekten zur „Humanisierung der Arbeitswelt“ (HdA) gearbeitet.

Damals wurden unter Arbeitsminister Herbert Ehrenberg und Forschungsminister Hans Matthöfer Millionen für HdA-Projekte zur Verfügung gestellt.

Frage: Was war damals der Hintergrund und Anlass für die Projekte zur Humanisierung der Arbeitswelt?

Boris Ludborzs: So wie man heute von der „Industrie 4.0“ spricht, war die Industrie, insbesondere die Prozessindustrie, vor allem in der chemischen Industrie, damals konfrontiert mit dem technologischen Wechsel von der nicht-automatisierten zur automatisierten Produktion. 1975 ist dieses HdA-Programm gestartet. Und es gab jede Menge Diskussionen, Tagungen und Forschungsansätze zu den neuen psychischen Belastungen, Beanspruchungen und Beanspruchungsfolgen. Ich war nicht in Forschung und Lehre eingebunden, sondern nur für Drittmittel-Projekte zuständig.

Ich war zum einen beschäftigt in der Grundlagenforschung mit Verfahrensentwicklungen zur Identifikation und Bewertung von psychischen Anforderungen bei der Arbeit, zum war ich an Projekten zur Einführung neuer Technologien in mittelständischen Firmen beteiligt. In einen Betrieb mit konventioneller Schweißtechnologie beispielsweise wurden modernste Schweißautomaten installiert und die Belegschaft entsprechend qualifiziert. Das war ein riesiges Projekt, wir hatten 36 Millionen D-Mark für Betriebsmittel. Mit den neu gekauften Schweißrobotern hatten die angelernten ausländischen Mitarbeiter allerdings ziemliche Probleme. Auch gab es eine Diskrepanz zwischen der schönen neuen Welt der theoretischen psychologischen Arbeitsgestaltung – Job Enrichment, Job Enlargement erweiterter Handlungsspielraum etc. – und der Umsetzungsfähigkeit und Wirksamkeit dieser Konzepte in die betriebliche Realität.

Frage: Die Schnittstelle Mensch-Maschine ist für Psychologen eine spannende Herausforderung. Welche hat Sie gereizt?

Parallel zum Psychologiestudium habe ich auch Soziologie, insbesondere Industriesoziologie studiert. Zentral für uns waren die Publikationen von Horst Kern und Michael Schumann, die sich mit den Auswirkungen der technologischen Veränderungen auf den Menschen und der Zukunft der Arbeitswelt auseinandergesetzt haben.

Außerdem brachte ich eine entscheidende Kompetenz als Psychologe ein: Ich hatte selbst in der Chemie gearbeitet und wusste, worauf es ankommt, im Gegensatz zu den von mir betreuten studentischen Mitarbeitern, die bei den Arbeitsanalysen von uns eingesetzt wurden. Die ließen sich zum Beispiel von einem Leitstand sehr beeindrucken, weil dort so viele Lichter blinkten und flackerten. Dass dies ein eigentlich sehr langweiliger und anforderungsarmer Arbeitsplatz war, ist ihnen entgangen. Sie haben die Arbeit dort dann als kognitiv besonders anfordernd und lernförderlich klassifiziert – so ein Leitstand hatte aber kaum Anforderungen, das wusste aber nur ich, weil ich solche Anlagen gefahren hatte. Die Studenten zeigten sich im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung von dem scheinbar so anspruchsvollen und komplexen Anforderungsniveau so begeistert, dass auch die Mitarbeiter schon anfingen zu glauben, dass sie da eine tolle Aufgabe hatten. Meiner Meinung nach können studentische Mitarbeiter, die nie gearbeitet hatten, auch keine vernünftigen Analyseergebnisse produzieren, ein Schwachpunkt einiger Forschungsergebnisse.

Frage: Sie brachten aber neben ihrem praktischen Wissen aus der Arbeitswelt auch Methodenkompetenz mit.

Boris Ludborzs: Ja, ich kam von einem der damals wenigen Lehrstühle, an dem Statistik und Methoden hohe Priorität hatten. Ich konnte sogar Varianzanalysen und andere multivariate quantitativen Methoden von Hand rechnen. Diese Methodenkompetenz und Vorerfahrungen in einem Humanisierungsprojekt machten es mir leicht, eine Stelle zu finden. Ich habe das gesamte Hauptstudium an einem Humanisierungsprojekt bei der Firma Bosch mitgearbeitet. Es ging um Fertigungsstraßen mit mehr als zwanzig Fließbandarbeitsplätzen mit einer Taktzeit von weniger als zwei Minuten, die zu sogenannten teilautonomen Fertigungsinseln umgestaltet wurden.

Auf  jeden Fall hatte ich mein Diplom noch nicht in der Hand und schon drei Stellenangebote im wissenschaftlichen Bereich. Ich hätte auch nach Zürich zu Prof. Ulich oder nach Bielefeld zu  Professor Mummendey gehen können, entschied mich dann aber wegen der finanziellen Förderung und der aufregenden Stadt für Berlin. Ich glaubte dort den politischen 68er Lifestyle zu finden. Aber der war längst vorbei. 1978 bis 1982 war ich also Wissenschaftler in Drittmittelprojekten an der Technischen Universität in Berlin.

Frage: Sie hätten ohne weiteres auch in die Hochschul-Lehre gehen können – hat Sie das nicht gereizt?

Boris Ludborzs: Das stimmt, aber mir gefiel das nicht, was an den Hochschulen lief, dieser unkollegiale Streit verschiedener arbeitspsychologischer Schulen, diese ganze Elfenbeinturmwelt, die dogmatischen Linken in Berlin, die per Abstimmung über Wissenschaftlichkeit entschieden. Ich kenne ein Arbeitsplatz-Analyseverfahren, in dem wurden die Datensätze aus Arbeitsanalysen, die nicht in die marxistische Ideologie passten, einfach herausgeworfen und andere, die nicht so ganz mit den theoretischen Vorstellungen konform gingen, so lange im Sinne von Beurteilerübereinstimmung „diskutiert“, bis sie gut passten. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Fraktionen – die eine, die seriös forschen und die andere, die politische Theorien bestätigt sehen wollten – verschärften sich und dies führte schließlich zum Eklat. Mit mir verließen weitere vier wissenschaftliche Mitarbeiter die Projekte, bzw. ein Projekt wurde vom Projektträger in Berlin beendet und an eine andere Hochschule vergeben, um dort vernünftig zu Ende geführt zu werden. Meine begonnene Promotion musste ich abbrechen.

Frage: Und dann entschieden Sie sich für die Stelle bei der Berufsgenossenschaft – der BG Chemie.

Boris Ludborzs: Ja, die  BG Chemie suchte Ingenieure, Chemiker und Psychologen für den Aufbau einer Ausbildungsstätte und zur Ausgestaltung der Qualifizierungsprogramme der BG Chemie. Da habe ich fünf Jahre lang die arbeitspsychologische Ausbildung aufgebaut.

Frage: Was war damals die Motivation der BG Chemie hinsichtlich der Einbindung eines Psychologen?

Boris Ludborzs: Das wichtigste Kriterium, mich einzustellen war, dass ich in der Chemie gearbeitet hatte. Da hatte sich der Kreis quasi geschlossen. Anfangs wurde ich immer vorgestellt mit den Worten „dies ist unser Hauspsychologe, aber lassen Sie sich dadurch nicht zu sehr irritieren, er ist in der Chemie groß geworden“. Dadurch begünstigt habe ich eine gewisse Narrenfreiheit gehabt, die ich zur Entwicklung der psychologischen Aufgabenfelder nutzen konnte. Ein zweiter Grund war sicherlich, dass die chemische Industrie als Risikobranche auch ein positives Image damit erreichen wollte. Das war eindeutig der Grund, dass ich fünf Jahre später, nachdem ich die Aufbauarbeit in den Ausbildungszentren geprägt hatte, Leiter eines in der BG Chemie neu eingerichteten Referates „Arbeitspsychologie“ wurde. Die damaligen Chemie-Störfälle, insbesondere die „Hoechster Störfälle“ führten dazu, ein entsprechendes Fachreferat zum sogenannten „Human Factor“ einzurichten und mit mir als Leiter zu besetzen. Dies wurde mit einer großen Pressekonferenz verbunden, um öffentlich zu demonstrieren, dass die BG Chemie hier etwas tun wollte.

1982 wurde ich eingestellt, 1985 wurde die Ausbildungsstätte eröffnet. Zwischendurch durchlief ich eine dreijährig vollständige Ausbildung als Technischer Aufsichtsbeamter, die ich damals allerdings nicht formal bescheinigt bekommen konnte. Denn Voraussetzung dafür war damals ein naturwissenschaftlicher Hochschulabschluss als Chemiker oder Ingenieur und eine mindestens vierjährige Industrietätigkeit als Betriebsleiter.

Frage: Sie haben sich beim Aufbau der Ausbildungsstätte auch konzeptionell eingebracht. Was war Ihnen hierbei wichtig?

Boris Ludborzs: Ich nannte mich Fachbereichsleiter für Psychologie, Ergonomie und Straßenverkehrssicherheit. Ich habe erstmal alle Nichtpsychologen, die Psychologie gelehrt haben verabschiedet, zum Beispiel Ingenieure und Physiker. Dann habe ich ein modulares, aufeinander abgestimmtes System von psychologischen und arbeitswissenschaftlichen Seminaren aufgebaut. Auch von einigen psychologischen Referenten musste ich mich trennen, weil sie nicht bereit oder in der Lage waren, sich in die entwickelten Curricula einzubinden, darunter auch von renommierten Psychologieprofessoren. Erfahrungen aus der Arbeit mit Lügendetektoren gehören zum Beispiel eindeutig nicht zu den Themen in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit. Ich habe zu jedem Seminartyp Fachgruppen mit Wissenschaftlern und Praktikern eingerichtet, die teilnehmer- und praxisorientierte Lehrinhalte entwickeln sollten. Zusammen mit den anderen Fachbereichsleitern hatten wir die Grundlagen für eine professionelle Erwachsenenpädagogik geschaffen.

Ich habe bei der BG Chemie bewirkt, dass weitere Psychologinnen und Psychologen eingestellt wurden. Ich habe im Hintergrund daran mitgewirkt, dass auch in den anderen Berufsgenossenschaften mehr Psychologen eingesetzt wurden. Es wurde durch das zunehmend größer werdende psychologische Netzwerk ein gewisser Zwang erzeugt,  Arbeitskreise mit psychologischen Aufgaben bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) zu etablieren. Ich habe auch in vielen Gremien engagiert mitgewirkt, beispielsweise in der Arbeitsgruppe zur „Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz“ (2012) der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA). Durch alle diese Aktivitäten habe ich versucht, meinen Beitrag zu liefern, das Image von psychologischer Expertise in den Unfallversicherungsträgern zu etablieren und zu fördern.

Frage: Meinen Sie, dass Psychologen ohne innerbetriebliche Kenntnisse der Industrie überhaupt vernünftige Analysen und Bewertungen erstellen und darauf aufbauend geeignete Maßnahmen ableiten können?

Boris Ludborzs: Für einen Hochschulabgänger ohne Berufserfahrung ist es teilweise ziemlich schwierig. Die Chemieindustrie zum Beispiel ist etwas Geschlossenes, wie eine Blackbox. Und wer da hineingeht und sieht nur dröhnende Anlagen, versteht wenig. Man kann nichts beobachten, man sieht ja nicht, wie sich die Stoffe in den Rohrleitungen bewegen und was in den Reaktionsbehältern passiert, es entsteht kein operatives Abbild. Es gibt andere Bereiche, da fällt es leichter, zum Beispiel im Krankenhaus, in dem die meisten schon mal Praxiserfahrungen als Patient gesammelt haben. Mit dem Studium ist die spezialisierende Qualifizierung nicht abgeschlossen. Die meisten Psychologen spezialisieren sich auch auf bestimmte Branchen. Ich bin zum Beispiel Experte für die High-Tech und High-Risk-Prozessindustrie, in der Stückgüterfertigung in hochautomatisierten Systemen und anderen Bereichen, aber es gibt große Teile der Arbeitswelt, wo ich mich bis heute nicht auskenne, wo ich mich nie als Experte bezeichnen würde. Man muss sich als Psychologie nach einem Master-Abschluss entscheiden, ob man sich stärker als Allrounder eher explorierend und lernend auf den Weg macht – dafür ist man vom Studium her ausreichend qualifiziert. Dann betont man natürlich, dass die notwendige Gestaltungsexpertise bei den betroffenen Mitarbeitern zu finden sei und diese nur psychologisch professionell moderiert werden müssten, um die Arbeit humaner zu machen. Oder man spezialisiert sich auf ausgewählte Gebiete. Dann muss man über das Arbeitsleben hinweg quasi einen zweiten Studiengang im technischen oder informatorischen Bereich machen. Und man versteht sich in seiner Rolle als Psychologe dann eher als Mediator mit dem Ziel, Erfahrungen der Mitarbeiter auf dem Hintergrund des eigenen Expertenwissens zielführend in die richtige Richtung zu bringen.

Es ist manchmal ganz gut, naiv irgendwo reinzugehen und sozusagen investigativ sich erarbeitet, was man da so beobachtet und welche Hinweise für die Arbeitskultur und die Gestaltungsdefizite dem zugrunde liegen. Erst nach langjähriger Erfahrung in einem Bereich beherrscht man neben der verbalen Sprache und Körpersprache auch die „Situationssprache“. Das ist so eine Art dritte Sprache im Betrieb, die erschließt sich ganz anders. Ich habe in einigen Bereichen blind sagen können, wo das Problem ist, einfach aus der Abnutzung der Geräte, wie Leitstände zusätzliche handschriftliche Hinweise haben oder bestimmte Teile zugeklebt sind. Man kann sehen, ob die schwarzen Bretter aktuell sind, wie man an der Pforte behandelt wird, ob man eine Unterweisung bekommt oder nicht, ob man unbetreut alleine durch ein Werk laufen kann etc., etc.

Wenn ich ein produzierendes Werk betrete, kann ich anhand dieser Situationssprache mit hoher Wahrscheinlichkeit in kurzer Zeit eine Arbeitshypothese entwickeln, wie weit der Arbeitsschutz entwickelt ist, keine Hochglanzbroschüre mit Führungsgrundsätzen oder dergleichen kann die real gelebte Sicherheits- und Gesundheitskultur sozusagen „verstecken“.

Frage: Ihre Kenntnisse von „innen“ sind da sicher gut angekommen?

Boris Ludborzs: Kollegen vom Zweiten Bildungsweg sind in der Industrie immer noch relativ unerwünscht. Grund: Man vermutet ein kritisches Potenzial, fehlende Anpassungsfähigkeit und sie erscheinen zu teuer, weil sie schon etwas älter sind.

Im Bereich Sicherheit und Gesundheit ist es allerdings ein großer Vorteil, wenn man als Psychologe einen ersten anderen Beruf hat.

Frage: Wie hat sich aus Ihrer Sicht im Laufe der Jahrzehnte die Bewertung psychologischer Faktoren in der Arbeitswelt verändert?

Boris Ludborzs: Eine gigantische Veränderung gibt es durch Tätigkeiten an mobilen Arbeitsplätzen mit mobilen Geräten und mobilen Einsatzzeiten und durch Multitasking-Anforderungen.  Das ist das Thema der Entgrenzungs- und Flexibilisierungsanforderungen der heutigen Arbeit. Auch in manchen Wirtschaftsbereichen tut sich da sehr viel an Problemen auf – zum Beispiel in der Dienstleistungsbranche. In der Chemie gibt es andererseits weniger  Veränderungen – die Bedingungen sind vergleichsweise gleich geblieben.

Aber es hat in weiten Bereichen auch nur den Anschein, dass die psychische Belastung und Beanspruchung sehr stark gestiegen ist. Denn es ist heute weniger tabuisiert, über psychische Probleme bei der Arbeit zu sprechen. Der Eisberg ist etwas weiter aufgetaucht. Wenn ich früher gesagt hätte „ich bin gestresst“, hätte man geprüft, ob ich eine Anlage fahren darf, aus rechtlichen Gründen. Heute steht der Mitarbeiter mit gewissem Stolz neben seinem Chef und sagt „ich bin total gestresst!“ und es passiert nichts. Früher im Zeitalter der körperlichen Arbeit zeigte man mit einem gewissen Arbeitsstolz die Muskeln und heute zeigt man, wie belastet man ist, um dann mit dem stolzen Zusatz zu ergänzen, „aber wir kriegen es gut hin.“. Hier setzt die Problematik der „interessierten Selbstgefährdung“ an.

Aber wirklich problematisch wird es in Bereichen, wo kaum Kommunikation vorhanden ist, z.B. da, wo jemand am Ende der getakteten Fertigungsstrecke steht und versucht, die vielen, vielen Produkte irgendwie in die Container zu bekommen, alles ist um ihn herum zugebaut, er kann mit keinem sprechen, er hat keinen Springer, der ihn kurz ersetzen kann, er muss quasi in eine Flasche pinkeln, wenn er auf die Toilette muss. Ein professioneller Psychologe lässt sich von den meinungsstarken Mitarbeitern nicht davon abhalten, die wirklich kritischen Bereiche in einem Betrieb zu finden.

Dann haben wir seit etwa dem Jahr 2000 den ICD-10-Diagnoseschlüssel bekommen, das ist ein einfaches Klassifikationssystem – Krankschreiben ist damit viel einfacher. Und die Zahl der ärztlichen Psychotherapeuten und Psychiater, die krankschreiben dürfen, hat sich in etwa verdoppelt, wobei die Wartezeit für eine Therapie zwar weiterhin steigt, aber die Zahl von Therapien auch.

Frage: Da spielen die Medien sicher auch eine Rolle.

Boris Ludborzs: Wenn Psychologen heute in den Betrieb kommen und fragen, was gibt es bei ihnen für psychische Belastungen, dann bekommen Sie unter Umständen eine Liste von dem, was die Leute so in den Medien gelesen und gehört haben. Und dann können sie ohne Gesichtsverlust nicht zurück, d.h., sie haben ein Worst-Case-Szenario beschrieben, was bei ihnen alles los ist, aber eigentlich nur beschrieben, was in den Medien jeden Tag auf sie eingeprasselt ist. Deshalb spricht ein professioneller Psychologe zu Beginn einer Intervention möglichst wenig von psychischer Belastung, sondern bezieht sich auf die konkreten Probleme, die sich stellen. Er geht also häufig niederschwellig vor, wobei viele Nichtpsychologen niederschwellig mit einfach verwechseln. Aber es muss ein gehöriges Maß an psychologischer Expertise vorhanden sein, um professionell mit niederschwelligen Settings zu arbeiten.

Frage: Sie scheiden jetzt nach vielen Jahren aus dem Vorstand aus – welchen Stellenwert hat der Fachverband PASiG für Sie gehabt?

Boris Ludborzs: Nach vielen Jahren Vorstandsarbeit stimmt ja nicht. PASiG ist im Dezember 2012 gegründet worden und es gab erst zwei Wahlperioden mit insgesamt dreieinhalb Jahren Dauer für den Vorstand. Diese mühsame, vielleicht zu mühsame Aufbauarbeit der eher formalen Strukturen des Fachverbandes hat für mich keinen besonderen emotionalen Stellenwert. Es erscheint mir als notwendige Routine, denn ich habe mein gesamtes Arbeitsleben über immerfort am Aufbau von Wissens- Kommunikations- und Kooperationsnetzwerken gearbeitet.

Einen bemerkenswert und auch sehr stark sozialisierenden Stellenwert haben dagegen die Workshops „Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit“ für mich. Ich war am 1. Workshop im Oktober 1984 einer der 16 Vortragenden mit dem Beitrag „Praxisbezogene Umsetzung sicherheitspsychologischer Erkenntnisse am Beispiel der berufsgenossenschaftlichen Aus- und Fortbildung“. Ich war an der Ausrichtung von dreien der bisher 19 Workshops wesentlich beteiligt, habe an fast allen Workshops teilgenommen, meistens auch mit einem eigenen Beitrag und/oder der Übernahme einer Moderationsfunktion. Das für mich kaum Glaubliche und emotional Berührende dabei ist, dass diese Workshop-Reihe bis zur Gründung von PASiG 28 Jahre lang 17 mal von einer kleinen informellen operativen Community realisiert wurde, der ich angehören durfte. Und dass eine größere Community mit einer hohen Zahl von substantiellen Beiträgen zum Erfolg beigetragen hat. Wobei man sich klarmachen sollte, dass prinzipiell kein Referent ein Honorar bekommen oder die Reisekosten erstattet bekommen hat.

Ich habe mich jetzt nicht mehr zur Wahl gestellt, weil ich seit zwei Jahren Rentner bin und die Rolle als Praxisvertreter-Vorstand mir nicht mehr angemessen erscheint. Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, sich im Leben zu engagieren. Und mit Bruno Zwingmann wurde ein engagierter und hervorragend kompetenter Nachfolger gewählt.

Viel Erfolg bei der weiteren Aufbauarbeit von PASiG.

Das Interview führte Beate Schwedler am 19.05.2016 während des 19. Workshops „Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit” in Wuppertal.